Wie die Zeit vergeht: Am Montag, 28. Juni, ist es genau zehn Jahre her, dass Google das soziale Netzwerk Google+ gestartet hat, das vom ersten Tag an für viel Gesprächsstoff gesorgt hat – sowohl positiv als auch negativ. Das Netzwerk ist längst Geschichte und vielleicht auch schon vergessen, aber es markierte auch mehrere wichtige Punkte in der Google-Geschichte. Ein kurzer Rückblick auf ein Produkt, an dem man vielleicht hätte festhalten sollen.
Am 28. Juni 2011 hat Google den Start eines neuen Produkts angekündigt, über das es erst wenige Tage vor dem Launch erste Leaks gegeben hat: Google+. Google+ war ein soziales Netzwerk, das sich allerdings selbst nicht so bezeichnete, sondern eher als „Interessenbasiertes Netzwerk“ in die Geschichte eingehen sollte – und das hat man ohne Frage geschafft. Man wollte dem Giganten Facebook etwas entgegensetzen, ohne ein MeToo-Produkt zu liefern. Auch das hat man, aus meiner Sicht, geschafft.
Google+ bestand aus mehreren kleinen Produkten, aus denen auch heute noch bestehende Dienste hervorgegangen sind: Hangouts, Google Fotos und zu einem gewissen Teil die Kontaktgruppen in Google Kontakte. Der Hauptteil des Netzwerks war aber der Stream, in dem die Beiträge und geteilten Inhalte aller gefolgten Nutzer und Seiten auftauchten. Es war das übliche Prinzip: Man folgt Person X und sieht anschließend dessen Beiträge im Hauptstream. Allerdings von Anfang an auf Basis von Algorithmen, sodass es niemals eine Garantie für die Sichtbarkeit gab.
Bei Google+ gab es keine Freundschaften, sondern man folgte gleichgesinnten Personen. Das Netzwerk war darauf ausgelegt, Interessensgenossen zu finden, sodass sich sehr schnell Communities bilden konnten. Besonders die Fotografie war ein großes Thema und hat damals viele Menschen miteinander verbunden – zumindest hat das nach Außen immer so gewirkt. Offiziell hat sich Google so gut wie nie über Zahlen, Schwerpunkt-Themen oder sonstige Statistiken geäußert.
Googles Social Network-Experimente
Google+ war bei weitem nicht Googles erster Anlauf in Richtung Social Network, aber es war der mit Abstand größte. Zuvor gab es Orkut, das zwar von Google betrieben wurde, aber kaum als echtes Google-Produkt wahrgenommen wurde. Es folgten einige weitere Experimente, wobei wohl auch Google Buzz unvergessen bleiben wird, über das man damals wie heute eigentlich nur den Kopf schütteln kann. Es war eine Art Newsfeed innerhalb von GMail.
Unvergessen bleiben die damaligen Geschichten, dass die Entwickler abgeschottet wurden wie iPhone-Ingenieure und ohne Kenntnis vieler Abteilungen am Netzwerk schraubten. Google+ war ein von ganz oben (CEO und Gründer Larry Page) unterstütztes Projekt, sodass man in den ersten zwei Jahren praktisch Narrenfreiheit hatte – und das hat man auch gemerkt. Das Produkt wurde mit größtmöglicher Wucht in den Markt gedrückt, was bekanntlich eher zur Ablehnung durch die Nutzer als zum Erfolg geführt hat.
Der Zwang zu Google+
Google+ wurde in sehr viele weitere Google-Produkte integriert und auch sehr schnell zur Notwendigkeit: Wer bei Google etwas veröffentlichen wollte, wurde plötzlich zu einem solchen Konto gedrängt. YouTube-Kommentare, Google Maps-Rezensionen und auch Play Store-Bewertungen waren für gut zwei Jahre nur mit einem Google+ Konto möglich. Und so dürfte man die Zahl der aktiven Google+ Nutzer für die internen Auswertungen wohl extrem gepusht haben, was aber schlussendlich dem Kernprodukt nicht viel bringt.
Geisterstadt
Damals wie heute brachte die Masse das Netzwerk Google+ mit einer digitalen Geisterstadt in Verbindung. Ich und viele unserer Leser waren damals bei Google+ sehr aktiv, der GoogleWatchBlog hatte weit über 200.000 Follower, und das Netzwerk war mit Sicherheit keine Geisterstadt. Auch alle anderen Nutzer, die das Netzwerk ernsthaft angesehen haben, dürften einen anderen Eindruck bekommen haben. Wenn man natürlich niemandem folgt, kann man auch keine Inhalte sehen.
Google+ wurde schnell zurückgefahren
Google+ war DAS zentrale Google-Produkt, heute in der Relevanz vielleicht mit dem Assistant vergleichbar, doch man hatte schnell bemerkt, dass die Nutzer kein Interesse hatten. Das lag allerdings (denke ich) daran, dass man mit der Brechstange von Null auf 100 wollte und nicht auf organisches und gesundes Wachstum gesetzt hat. Es wurde niemals gesagt, aber mit Sicherheit hat man von einem Facebook-ähnlichen Erfolg geträumt. Damals war der Name „Google“ noch ein extremer Erfolgsgarant. Von erfolglosen Google-Produkten und ständigen Einstellungen hatte man bis dahin kaum etwas gehört (abgesehen vom Google Reader).
Nach etwa zwei Jahren hat man den Zwang zum Google+ Profil zurückgefahren und die Weiterentwicklung sehr sehr deutlich verlangsamt. Die Zombie-Zeit des Produkts, also die zwischen dem offensichtlichen Interesse-verlieren und der Einstellung, war länger als die aktive Zeit. Google dementierte die Einstellung immer wieder, man zog ja auch nicht den Stecker, aber eine Weiterentwicklung gab es auch nicht. Auch eine Pflege war nicht mehr vorhanden, sodass das Netzwerk im Herbst und Winter seines Lebens leider auch zur Spamschleuder wurde. Dennoch blieben die wirklich sehr guten Communities bis zum letzten Tag an Bord.
Google+ wurde im April 2019 eingestellt, angeblich aufgrund einer großen Datenpanne sowie einer dramatischen Nichtnutzung – der durchschnittliche Nutzer blieb wohl weniger als 3 Sekunden. Kann man glauben, muss man aber nicht. Die Datenpanne gab es mit Sicherheit, aber das nur ein willkommener Grund zur Abschaltung. Die Community hatte sich lange gegen die Abschaltung gewehrt, doch man wurde von Google vollständig ignoriert. Leider hat es, soweit ich weiß, praktisch keine Community geschafft, eine neue Heimat zu finden. Die Kultur auf Google+ war einzigartig und ist das, woran sich viele damalige Nutzer wohl noch lange Zeit erinnern werden.
Google+ wäre heute wichtiger denn je
Mit dem Aus von Google+, vielleicht auch schon sehr viel früher, hatte das Unternehmen endgültig bewiesen, vom großen Bereich „Social“ keine Ahnung zu haben und keine erfolgreichen Produkte etablieren zu können. Das gilt für Soziale Netzwerke sowie für Messenger. Vielleicht hat man bei Google+ aber auch viel zu früh den Stecker gezogen. Facebook ist trotz aller Unkenrufe bis heute extrem erfolgreich und Google hat dem nichts entgegenzusetzen.
Gerade die aktuelle Phase des Home Office und der Kollaboration hätte eine große Chance für Google+ sein können. Das Netzwerk wäre der ideale Mittelpunkt zur Zusammenführung vieler Dienste gewesen, die man gerade erst wieder mit der fragwürdigen Google Workspace-Erweiterung stärken möchte. Vielleicht kommt ein ähnliches Produkt eines Tages zurück, doch leider steht der Name „Google“ bei Produkten in solchen Bereichen eher als Warnung, statt Neugier zu erwecken.
Viel mehr Informationen rund um Google+ sowie Hintergründe, Einblicke in die Geschichte und die damaligen FAQs findet ihr übersichtlich in meinem damaligen Nachruf auf Google+.
RIP Google+.
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