In den letzten zwei Wochen wurden viele neue Google-Produkte angekündigt, doch eine „Zukunfts-Technologie“ hat auch in diesem Jahr nur eine sehr untergeordnete Rolle gespielt: Die Augmented Reality. Viele Menschen dürften sich noch an ein Produkt erinnern, das vor neun Jahren vorgestellt wurde und vom Beginn bis zur Einstellung für große Diskussionen sorgte – Google Glass. Wäre die Zeit heute, neun Jahre später, reif für dieses Produkt?
Google ist seit jeher ein sehr experimentierfreudiges Unternehmen, das ständig neue Produkte auf den Markt bringt, die bei einem Misserfolg oder einer Strategieänderung auch genauso schnell wieder eingestellt werden können. Manchmal wird ein Produkt erst nach vielen Jahren eingestellt und manchmal kann es auch ganz schnell gehen, noch bevor die Masse der Nutzer es überhaupt kennenlernen konnte. Bei Google Glass ging es gefühlt ganz schnell, auch wenn es von der Präsentation bis zur Einstellung tatsächlich knapp drei Jahre vergangen sind.
Im April 2012 hat Google-Gründer Sergey Brin höchstpersönlich Google Glass vorgestellt und den Prototypen währenddessen bereits auf großer Bühne getragen. Begleitet wurde die Vorstellung von einem Werbevideo (unten eingebunden), mit dem das Produkt erst einmal grundsätzlich vorgestellt und die Möglichkeiten gezeigt werden. Vom Fallschirmspringen über eine Achterbahnfahrt bis hin zur Navigation oder Aufnahme von besonderen Momenten mit den Kindern war alles dabei.
Die Präsentation löste bei Beobachtern und Medien einen echten WOW-Effekt aus, der sich zu einem großen Hype entwickelte. Fünf Jahre nachdem Steve Jobs das iPhone präsentierte, hatte man endlich wieder das Gefühl, in Google Glass DAS Next Big Thing zu sehen – die Zukunft. Das wirkt aus heutiger Sicht, neun Jahre später, etwas überzogen, aber wer sich noch an die Zeit nach der Präsentation erinnert, wird diesen Eindruck vielleicht bestätigen können.
Geworden ist daraus bekanntlich nicht viel, denn das Produkt kam niemals auf den Massenmarkt und bis auf wenige Tech-Nerds konnte kaum jemand die Brille ernsthaft ausprobieren. Das hatte viele Gründe: Diese reichen vom Zeitgeist über den Schutz der Privatsphäre und Datenschutz bis hin zur Optik des Gadgets. Aber all das könnte heute anders gemacht werden.
Die im Video gezeigten Einsatzgebiete wurden schon damals vom Smartphone abgedeckt, aber dass dem Nutzer wichtige Informationen direkt vor das Auge projiziert werden, war die eigentliche Innovation hinter dem Produkt. Die Vorstellung, dass Informationen ungefragt und kontextbasiert eingeblendet werden, war nicht mehr ganz Revolutionär, aber dennoch beeindruckend. Doch Glass kämpfte mit drei großen Problemen, die damals nicht gelöst wurden und Anfang 2015 zur endgültigen Einstellung des Projekts geführt haben.
- Zuviel Vision: Die ersten „Explorer Editions“, die für 1.500 Dollar verkauft wurden, unterschieden sich sehr deutlich von der Ankündigung und waren längst nicht mehr so beeindruckend. Das hat das gesamte Produkt entzaubert
- Die lange Wartezeit: Von der ersten Ankündigung bis zum gedrosselten Verkaufsstart vergingen zwei Jahre. Natürlich konnte der Hype nicht gehalten werden und durch den rasanten Fortschritt der Technologie war vieles im Jahr 2014 längst nicht mehr so beeindruckend wie 2012
- Kamera & Glassholes: Direkt an der Front war eine Kamera platziert, mit der die Brille ihre Umwelt wahrgenommen hat und viele Funktionen erst ermöglicht hat. Weil man sich aber nie sicher sein konnte, ob man nicht ständig von den Glass-Trägern gefilmt wird, wurden diese wenigen Tester wenig freundlich empfangen und teilweise sogar Gewalt angedroht. Der Begriff der „Glassholes“ war geboren – und damit der Marketing-Supergau, der viel zum Aus beigetragen haben dürfte
Privatsphäre
Heute sieht alles ein bisschen anders aus. Neun Jahre später hat (gefühlt) die halbe Welt einen dauerhaft lauschenden Smart Speaker im Wohnzimmer und ist umgeben von Kameras, Sensoren und weiteren Geräten, die ständig Daten aufzeichnen. Auch Smart Displays mit Kamera, die direkt in das Wohnzimmer oder gar Schlafzimmer der Menschen zeigt, erfreuen sich großer Beliebtheit. Google hat sogar das Schlaf-Tracking für sich entdeckt. Privatsphäre ist nach wie vor wichtig, doch die Menschen sehen vieles mittlerweile lockerer bzw. vertrauen darauf, dass die oft zahlreich verfügbaren Datenschutz-Einstellungen von den Produkten eingehalten werden bzw. dass sensible Daten die Geräte vielleicht gar nicht verlassen.
Technologie & Praxis
Die damals von Google Glass gezeigten Möglichkeiten sind erst heute tatsächlich vollständig möglich und werden von vielen Menschen am Smartphone genutzt. Unter anderem durch Smartwatches aber auch Smart Displays geht der Trend weiter dahin, Informationen auch an anderer Stelle zu bekommen. Viele Nutzer würden es sicher begrüßen, aktuell relevante Informationen direkt vor dem Auge eingeblendet zu bekommen. Der nächste Punkt für Glass.
Der Hype
Zuletzt der Punkt Wartezeit: Die großen Unternehmen haben mittlerweile gelernt, dass innovative Produkte wenige Wochen nach der Präsentation erhältlich sein sollten. Google tut sich damit zwar vor allem international sehr schwer, aber so lange einige große Märkte bedient werden und die Begeisterung hochgehalten wird, werden die Medien und Nutzer ihr übriges tun, um das Will-Haben-Gefühl weiterhin zu stärken. Als erstes Produkt auf dem Markt, ohne echte Konkurrenz, wird es noch leichter.
Zeitgeist
Der wichtigste Punkt, der damals als Grund für das Scheitern ausgemacht wurde: Dass das Produkt seiner Zeit voraus war. Dieses Problem löst sich irgendwann von selbst, aber auch die aktuellen Entwicklungen würden eine Markteinführung im Jahr 2021 begünstigen. Die Augmented Reality hat in den neun Jahren sehr große Sprünge gemacht und entsprechende Brillen (auch VR) werden von einigen großen Unternehmen entwickelt. Google hat AR längst auf das Smartphone gebracht und trägt somit zur weiteren Etablierung dieser Technologie bei.
Apps
Aber auch ganz praktische Einsätze gibt es mittlerweile: Insbesondere die Google Maps Augmented Reality-Navigation nutzt diese Technologie und setzt damit im Ansatz das um, was vor neun Jahren versprochen wurde. Es ist zwar noch ein kleiner Weg bis zur Vision aus dem Jahr 2012, aber in der Kombination aus Google Maps und dem Google Assistant ist alles damals gezeigte heute längst möglich. Es wäre für Google grundsätzlich also kein Problem, die damaligen Versprechen zu halten. Dass vieles dank KI und starker Ressourcen Offline durchgeführt werden kann, kann ein weiteres Argument sein.
Insgesamt kann man sagen, dass Google mit einer Wiedereinführung, vielleicht unter einem anderen Namen, heute deutlich mehr Erfolg haben könnte. Weil das Unternehmen heute, anders als damals, als Hardware-Hersteller wahrgenommen wird, wäre noch eine letzte Hürde aus dem Weg geräumt. Tatsächlich wurde das Glass-Projekt niemals aufgegeben, sondern kommt im Business-Bereich zum Einsatz, allerdings seit Jahren eher mit dem Charakter eines (für Google) unbedeutenden Nebenprojekts.
Gut möglich, dass das Produkt nun gereift ist und vielleicht zum zehnjährigen Jubiläum erneut vorgestellt wird. Die im vergangenen Jahr bekannt gewordene Übernahme von North heizt diese Theorie nur weiter an.