Trotz einiger Anstrengungen ist es Google bisher nicht gelungen, den seit vielen Jahren anhaltenden Erfolg im Smartphone-Markt auf den Wearable-Bereich umzumünzen. Weil Wearables aber seit längerer Zeit einen Boom erleben, dürfte Google hinter den Kulissen an einem großen Comeback basteln, dessen Puzzlesteinchen sich so langsam zusammensetzen. Allein in dieser Woche gab es mehrfache Anzeichen dafür, dass Google die eingeschlagene Richtung mit Hochdruck vorantreibt. Aber auch einen herben Rückschlag.
Wearables sind eng mit dem Smartphone verbunden und in vielen Fällen für den vollständigen Funktionsumfang auf dessen Ressourcen angewiesen. Es wäre also durch die Android-Dominanz eigentlich ein leichtes Spiel für Google gewesen, das Betriebssystem Android Wear (heute Wear OS) zum Erfolg zu führen – aber daraus wurde bekanntlich nichts. Es mangelte nicht nur an eigener Hardware, sondern auch an Unterstützung durch die Hardware-Hersteller. Das muss nun alles nachgeholt werden.
Der Wearable-Markt ist für Google bisher ein Buch mit sieben Siegeln, denn das Betriebssystem Wear OS taucht in den globalen Statistiken nicht einmal auf und die im vergangenen Jahr angestoßene und nach wie vor nicht abgeschlossene Übernahme von Fitbit ist durch immer weiter fallende Marktanteile ebenfalls nicht unbedingt von Erfolg gekrönt. Insbesondere die nicht absehbare Fitbit-Verzögerung dürfte dafür sorgen, dass wir uns wohl mindestens bis in das Jahr 2021 hienein gedulden müssen. Aber es soll ja nicht nur beim Handgelenk-Schmuck bleiben.
Vor einigen Monaten wurde bekannt, dass Google Glass ein Comeback feiern soll und den vor acht Jahren begonnen ewigen Wearable-Kreis schließen könnte. Vermutlich wird die damalige Produktbezeichnung und die Form deutlich verändert, aber die vor wenigen Tagen vollzogene Übernahme von North hat gezeigt, dass dieser Bereich für Google nach wie vor sehr interessant ist. Zur Unterstützung des Business-Bereichs, in dem Google Glass mittlerweile gut aufgenommen wurde, hat man die Übernahme wohl kaum getätigt.
Der Kaufpreis von 180 Millionen für North ist für Google geradezu ein Schnäppchen, denn das Unternehmen hat „fertige“ Produkte im Portfolio und zahlreiche Patente im Bauch – mehr dazu in diesem Artikel. Vor allem angesichts der Übernahme von Nest für 3,2 Milliarden und Fitbit für 2,1 Milliarden Dollar wäre es eine günstige Neuerwerbung.
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Auch wenn es sich zu Beginn nur um einen Bericht handelte, ging ich direkt davon aus, dass die Übernahme durchgezogen wird und nur einen Tag später kam dann auch die Bestätigung. Es ist der zweite wichtige Teil eines neuen Wearable-Anlaufs, den das Unternehmen in der nächsten Zeit in Angriff nehmen wird. Schon bei der Übernahme von Fitbit Ende 2019 wurde verkündet, dass man große Pläne mit Wearables hat. Denn nur zur Unterstützung von Wear OS oder der Pixel-Smartphones hätte man wohl kaum mehr als zwei Milliarden Dollar auf den Tisch gelegt.
Arm, Hände, Augen
Während Google mit Fitbit die Wearables für das Handgelenk in Angriff nimmt, kommen mit North gleich zwei neue Bereiche dazu, die bisher am Markt noch keine große Rolle spielen und Google somit bei Erfolg in eine Vorreiterrolle bringen könnten: Die smarten Brillen sowie den smarten Ring zur Steuerung der Brille. Letzter könnte vom praktischen Brillen-Zubehör zu einem flexiblen Werkzeug mit vielen weiteren Funktionen und Steuermöglichkeiten ausgebaut werden.
Natürlich gibt es sowohl smarte Brillen als auch solche Ringe bereits am Markt, aber verglichen mit den Fitnesstrackern oder Smartwatches sind sie in der absoluten Nische und warten noch auf ihren Durchbruch. Damals, vor acht Jahren, war Google zu früh dran und hat gleichzeitig den Fehler gemacht, eine Kamera auf das Gegenüber und die Umgebung zu richten. North ist da deutlich zurückhaltender und konzentriert sich darauf, dem Träger Informationen vor die Augen zu projizieren. Eine Video-Aufnahme braucht niemand. Das ist vielleicht eine gewagte Aussage von mir, aber Stand heute braucht so etwas niemand.
„Google Glass“ ist verbrannt
Mit einem möglichen Neustart von Google Glass haben wir uns hier im Blog schon beschäftigt und im Business-Umfeld ist das Gadget bereits wieder präsent, wenn auch nur in sehr kleinem Rahmen. Im Privatsektor sieht das ein bisschen anders aus, denn Googles Ruf ist nicht unbedingt besser geworden und selbst ein Produkt mit einem anderen Namen dürfte eher negativ aufgenommen werden. Eine völlig andere Marke zu bemühen, wie etwa North, wäre vielleicht nicht die schlechteste Idee. Weitere Hardware-Marken wie Nest oder Fitbit besetzen bereits ihre Nischen und wären ebenfalls kaum geeignet.
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Googles neues Komplettpaket
Sollte Google tatsächlich den Neustart wagen, der für die Handgelenk-Gadgets auf jeden Fall kommt, dann wäre es in Kombination mit einer solchen Brille natürlich sehr praktisch. Heute schätzen es viele Menschen, dass sie wichtige Informationen vom Smartphone auf das Handgelenk erhalten und das Mobiltelefon nicht aus der Tasche nehmen müssen. Im nächsten Schritt hat man es dann direkt vor Augen und muss auch nicht mehr den Arm heben. Das hat jetzt nicht viel mit Bequemlichkeit zu tun, sondern einfach einem Komfort und der Möglichkeit, stets Informationen abrufen und erhalten zu können.
Wenn es Google gelingt, ein gemeinsames Ökosystem aufzubauen und diese Produktgruppen nahtlos miteinander zu verbinden, sehe ich persönlich ein sehr großes Potenzial in diesem Bereich – aber vielleicht nicht mehr mit dem Betriebssystem Wear OS. Auch in diesem Bereich bietet sich der Google Assistant als tonangebende Plattform an, bei der dann nicht mehr interessiert, welches Betriebssystem sich darunter befindet. Das funktioniert im Smart Home mit den zahlreichen Gerätschaften sehr gut – warum also nicht auch am Körper des Nutzers?
Neuer Turbo für Wear OS & Probleme bei Fitbit
Pünktlich zur North-Übernahme hatte Qualcomm einen neuen Wear OS-Boost angekündigt, der durch einen optimierte SoC bis zu 85 Prozent mehr Leistung und 25 Prozent mehr Akkulaufzeit herausholen soll. Eigentlich die perfekte Komponente für einen großen Neustart, der aber zumindest von Google wohl nicht mit Hardware begleitet wird. North hat (noch) nichts mit Wear OS zu tun und die Umstellung und Integration des Unternehmens dürfte lange dauern. Und dass nun auch noch die Fitbit-Übernahme wackelt macht die ganze Situation nicht besser…
Doch von solchen Störgeräuschen wird sich Google langfristig sicherlich nicht davon abbringen lassen, den Wearable-Markt völlig neu anzugreifen. Sonst hätte man wohl kaum 2,3 Milliarden Dollar ausgegeben und bereits mehrfach ein Wearable-Bekenntnis ausgesprochen. Auch der Qualcomm-Chip dürfte (vermutlich) zu einem nicht unerheblichen Teil von Google mitfinanziert worden sein.