Gestern Abend hat Google nach einer sehr langen Phase der Gerüchte und Spekulationen die Spieleplattform Stadia offiziell vorgestellt und damit trotz vieler bereits im Vorfeld bekannten Informationen für Überraschungen gesorgt. Die erste Überraschung war es, dass Google nun selbst zum Spieleentwickler wird. Die zweite Überraschung könnte mit etwas Verspätung erfolgen: Die komplette Versenkung der Konsolenbranche.
Wenn man es auf das wesentliche reduziert, hat Google gestern Abend nur das präsentiert, was die logische Folge des im vergangenen Jahr bereits angekündigten Project Stream gewesen ist. Jetzt wurde es zu einem vollwertigen Produkt aufgebaut, mit schönen Visionen und Zahlen unterlegt und schon stellt sich bei den Nutzen das Will-Haben-Gefühl ein. Dass man auf dem Event weder Preise noch Vertriebsmodell oder einen konkreten Zeitplan genannt hat, ist sehr Schade, dürfte dem zukünftigen Erfolg aber keinen Abbruch tun.
Wenn Google in einen völlig neuen Markt eintritt, dann läuft das stets nach einem sehr ähnlichen Muster: Das Unternehmen beobachtet den Markt sehr genau, analysiert dessen Schwächen und versucht diese auszugleichen. Die Beobachter sind häufig skeptisch und geben den neuen Produkten keine Chance, lagen damit aber schon häufig daneben. Genau so lief es nämlich auch beim Chrome-Browser, Android und sogar schon damals bei GMail. Und Stadia dürfte das nächste Kapitel sein.
Natürlich darf man sich von den großen Events und den tollen Demonstrationen nicht blenden lassen, aber ich denke, dass Google gestern Abend die Zukunft des Gamings eingeläutet hat und innerhalb kürzester Zeit eine sehr gewichtige Rolle in dieser Branche einnehmen wird. Auch wenn das Produkt selbst, gestreamte Spiele im Browser, keine Weltneuheit ist, wird es nun erstmals in richtig großem Umfang und sehr ernsthaft umgesetzt. Und es werden Hürden entfernt, die bisher bestanden haben.
Tatsächlich waren die Hürden für Spiele bisher recht hoch. Man musste sie kaufen, physisch oder als Download. Man benötigt häufig hochgezüchtete teure Hardware oder eine der drei großen Konsolenplattformen. Letztes macht es dann durch die vielen Exklusivtitel wieder schwer, sodass der geneigte Gamer sowohl XBOX als auch PlayStation und am besten noch ein Nintendo besitzen muss. Das alles entfällt nun.
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Google hat sich auf die Fahnen geschrieben, eine Spieleplattform „for everyone“, also für jeden, zu schaffen – unabhängig vom Computer oder den Konsolen. Während des Events wurde man auch nicht müde, immer wieder zu betonen, dass die Zukunft im Streaming und nicht in den Konsolen liegt. Was anfangs nach typischem Marketing-Blabla klang, verfestigte sich sehr schnell im Laufe der Präsentation. Spätesten nach dem Ende der Show muss man sich schon fragen, wozu eine Konsole überhaupt noch notwendig ist, wenn diese ohnehin schon an der Cloud hängen.
Meiner Ansicht nach hat Google gestern Abend den Sarg für die Playstation, die XBOX und auch die Nintendo-Konsolen ganz weit geöffnet und auch schon die ersten Nägel bereitgelegt, die nach dem Start des Angebots reingehauen werden. Schon bei den aktuellen Generationen war vielen klar, dass es so nicht weitergehen wird und sich Sony und Microsoft etwas Neues überlegen müssen – aber sie haben in all den Jahren bis auf einige wenige erste Ansätze nicht geliefert.
Schon bald werden die neuen XBOX- und PlayStation-Konsolen erwartet, aber sie erscheinen nun in einem völlig anderen Licht. Viele werden sich fragen, ob sie die mehrere Hundert Euro teure Konsole überhaupt brauchen. Und sollten die beiden Unternehmen ebenfalls Streaminglösungen vorstellen – die man aber natürlich nicht mal eben aus dem Hut zaubern kann – werden sie erst einmal als Me-Too-Produkte wahrgenommen. Microsoft hat bereits ein ähnliches Angebot geteasert, wird es aber gegen Googles Infrastruktur sehr schwer haben.
Google ist zwar der absolute Neuling auf diesem Markt, schmeißt aber alles hinein, was nur geht und den schnellen Erfolg bringen soll: Der Chrome-Browser als Plattform, der Chromecast als Plattform, YouTube als Brücke zwischen Lets Play und Selbst spielen, der omnipräsente Google Assistant und nicht zuletzt auch die hauseigene Google Cloud. Keiner der drei Konsolenbauer hat auch nur annähernd dieses Komplettpaket – und das wird es ihnen sehr schwer machen.
Aber nicht nur die Spieler könnten von dem Angebot begeistert sein, sondern auch die vielen großen Spieleentwickler: Zwar begeben sie sich in eine Abhängigkeit eines einzelnen Unternehmens (was bei den Konsolen aber nicht viel anders ist), aber sie profitieren von besseren Rahmenbedingungen: Keine doppelte und dreifache Entwicklung mehr für verschiedene Plattformen UND – vielleicht das wichtigste – keine echten physikalischen Grenzen mehr. Man kann nun bei jedem Spiel stets volle Rechenpower voraussetzen, ohne ständig einen Kompromiss zwischen benötigter Leistung und der Größe der Zielgruppe einzugehen.
Um einige Probleme zu lösen, hat Google erst vor wenigen Tagen neue Werbeformen für Spiele angekündigt, die vielleicht bei der zukünftigen Finanzierung eine große Rolle spielen könnten. Gleichzeitig hat das Chrome-Team sichergestellt, dass künftig auch Nintendo Switch-Controller unterstützt werden. Alles im Sinne der weiteren Unabhängigkeit. Dass Google selbst zum Spieleentwickler wird, könnte die ganze Sache für die großen Publisher etwas trüben, aber bekanntlich entwickeln auch Microsoft, Sony und Nintendo eigene Spiele.
Alles steht und fällt nun mit der Preisgestaltung von Googles Angebot, das immer wieder auch als „Netflix der Spiele“ bezeichnet wird. Kann man hier ein attraktives Paket für die Spieler schnüren, bei dem dann auch noch für die Spieleentwickler und Google selbst genug zu verdienen ist, ist eine starke Marktposition so gut wie sicher. Auf der diesjährigen Entwicklerkonferenz Google I/O werden ebenfalls erstmals Spiele eine große Rolle spielen. Vielleicht erfahren wir dann schon mehr.